Nur die Spitze des Eisbergs

01/2022: Verpackungen schützen Lebensmittel vor schädlichen Einflüssen bei Lagerung, Transport und Verkauf. Neue Studien zeigen aber: Die Gesundheitsrisiken durch migrierende Chemikalien sind bisher nur sehr rudimentär untersucht worden und womöglich weit höher als bislang angenommen.

Wir alle wissen, dass Verpackungen in unserem globalisierten Lebensmittelmarkt eine zentrale Rolle spielen. In vielen Fällen sind sie tatsächlich unverzichtbar, denn sie ermöglichen die längere Haltbarkeit von Lebensmitteln und weite Transportwege. Genauso wissen wir aber schon seit längerem, dass Verpackungen auch eine wichtige Quelle von Chemikalien sein können, die aus der Verpackung in Lebensmittel übergehen.

Die Wirkung solcher «Food Contact Chemicals» (FCCs) ist bereits seit einem halben Jahrhundert Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Studien. Und zumindest für einen kleinen Teil dieser FCCs ist ihr negativer Einfluss auf die menschliche Gesundheit mittlerweile sogar klar belegt. 

Wirkung von FCCs auf Gesundheit im Fokus

So zeigt etwa eine kürzlich von europäischen Forschenden veröffentlichte Untersuchung, dass mindestens 29 Chemikalien – darunter Bisphenole und Phthalate, die in unterschiedlichsten Verpackungsarten eingesetzt werden –, wichtige Risikofaktoren u.a. für die Minderung der Spermienqualität sind. Diese Studie zeigt eine «alarmierende Überschreitung der zulässigen kombinierten Exposition» verschiedener synthetischer Chemikalien, denen der Mensch im Alltag aus diversen Quellen, inklusive aus Lebensmittelverpackungen, ausgesetzt ist. Allein bei neun im Urin überwachten Chemikalien, wurden die zulässigen Expositionen besonders bedenklicher Chemikalien um das 17-Fache, bei stark exponierten Probanden sogar um mehr als das 100 - Fache überschritten.

Solche Ergebnisse sind besonders besorgniserregend, weil schon seit Jahrzehnten eine dramatische Negativentwicklung der Fruchtbarkeit in der männlichen Bevölkerung dokumentiert ist. Die Wissenschaft fordert deshalb ein schnelles Handeln der Behörden – insbesondere ein Verbot von Bisphenol A (BPA) in Materialien, die mit Lebensmitteln in Berührung kommen.

Studie legt grosse Wissenslücken offen

Dabei könnte es sich allerdings lediglich um die Spitze des Eisbergs handeln, wie eine ebenfalls kürzlich veröffentlichte, internationale Studie zeigt, an der ich selbst aktiv mitgearbeitet habe. Ziel dieser Arbeit war es, eine systematische Übersicht zu erstellen über alle Chemikalien, welche jemals in Lebensmittelkontaktmaterialien («food contact materials»), einschliesslich den Verpackungen, gemessen wurden. Die «Database on migrating and extractable food contact chemicals» (Datenbank über migrierende und extrahierbare Lebensmittelkontaktchemikalien – FCCmigex) enthält Informationen aus insgesamt 1 210 Studien. 

Das Ergebnis ist frappierend: Wir fanden heraus, dass bis heute zwar insgesamt 2 881 FCCs in insgesamt sechs Gruppen von Lebensmittelkontaktmaterialien (FCMs) – darunter Kunststoffe, Papier / Pappe, Metall, Multimaterialien (wie Getränkekartons), Glas und Keramik – nachgewiesen wurden. Besonders überraschend war allerdings, dass rund 65 Prozent dieser Chemikalien bislang überhaupt nicht bekannt waren für ihre Verwendung in Lebensmittelkontaktmaterialien. Unsere Ergebnisse zeigen, dass mindestens 14 153 Chemikalien in Verpackungen für Lebensmittel, aber auch in Verarbeitungsgeräten, Lagerbehältnissen usw. nachweisbar sind (siehe untenstehende Grafik).

Beunruhigend ist dieses Ergebnis vor allem, weil wir über die Wirkung vieler dieser FCCs auf die menschliche Gesundheit praktisch nichts wissen – weder wie schädlich sie sind, wenn sie tagtäglich in kleinen Mengen mit der Nahrung aufgenommen werden, ob sie dauerhaft im Körper bleiben, noch wie sie miteinander interagieren, wenn sie in Mischungen aus Verpackungen ins Lebensmittel migrieren. Mich hat das überrascht, denn eigentlich nimmt man an, dass die Behörden hier genau hinschauen. Tatsächlich ist dies aber nicht der Fall und die Chemikalien in Lebensmittelverpackungen sind weitgehend unkontrolliert.

Bemerkenswert war überdies auch die Verteilung der FCCs über die verschiedenen Materialien-Gruppen: So wurde (nicht ganz überraschend) der überproportional grösste Teil der FCCs in FCMs aus Kunststoff nachgewiesen, während Glas und Keramik die mit Abstand geringste Zahl an gemessenen FCCs aufweisen (siehe nachfolgende Grafik). Dies hat damit zu tun, dass Kunststoffe synthetische, also vom Menschen hergestellte Materialien sind, welche aus sehr vielen verschiedenen, synthetischen Chemikalien bestehen. Manche davon sind sogar gänzlich unbekannt. Als Material sind Kunststoffe also hochkomplex. Glas und Keramik sind dagen vergleichsweise sehr einfache Materialien, welche aus wenigen Rohstoffen hergestellt werden und daher sehr gut charakterisiert sind. Unbekannte Stoffe kommen in diesen Materialien nicht vor. 

Insgesamt unterstreichen unsere Ergebnisse, wie dringend notwendig es ist, die Wirkung von FCCs genauer zu untersuchen und zu dokumentieren – und zwar, bevor diese überhaupt grossflächig eingesetzt werden, wie es heute der Fall ist. Allerdings ist diese eine enorm zeit- und ressourcenintensive Aufgabe wegen der grossen Zahl an Chemikalien, die besser zu untersuchen wären. Daher ist es wichtig, den Einsatz von FCCs einzuschränken und nur solche Materialien zu verwenden, welche gut untersucht sind und für unbedenklich befunden wurden – etwa Materialien wie Glas und Keramik oder Edelstahl, deren chemische Zusammensetzung genau bekannt ist und aus denen wenige bis gar keine Chemikalien in Lebensmittel migrieren. 

«Glas und Keramik haben mit Abstand die geringste Zahl an gemessenen Lebensmittelkontaktchemikalien.»
Jane Muncke, Autorin und Geschäftsführerin und Chief Scientific Officer beim Food Packaging Forum

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